Wir hatten es geschafft. Wir, das waren mein guter Freund Christian Lelonek und Bundesbruder Aqua und ich. Wir hatten uns in der Lehrwerkstatt der Firma Gebr. HELLER in Nürtingen kennen gelernt. Dort erlebten wir eine strenge aber sehr gute Ausbildung zu Maschinenschlossern. Wir hatten um die Ausbildungsstelle kämpfen müssen. Mehr als 300 Bewerber mussten an drei Samstagen Eignungsprüfungen ablegen. Die letzte Prüfung war eine Art Kreuzverhör an dem außer dem Prüfling der Personalchef, der Produktionsleiter, der Betriebsratsvorsitzende und der Ausbildungsleiter teilnahmen. Erste Frage: Warum willst Du in Nürtingen Deine Lehre machen, obwohl Du in Kirchheim wohnst? Meine Antwort weil ich erfahren habe, dass die Fa. Gebr. HELLER die beste Ausbildung in weitem Umkreis bietet. Ca. dreißig Glückliche erhielten dann einen Ausbildungsplatz, wobei nur ca. fünf von höheren Schulen kommen durften, weil diese ja in der Regel eine Ingenieurausbildung anstrebten und somit als Facharbeiter für die Firma ausfielen.
Christian war ein Flüchtlingskind aus Schlesien. Nach einer schlimmen Flucht fand die Familie in Dettingen unter Teck unter dem Dach eines Bauernhofes Herberge. Vater Lelonek verdiente als Rangiermeister bei der Bundesbahn in Plochingen den Unterhalt für die fünfköpfige Familie. Täglich fuhren wir mit dem Bus frühmorgens gegen 6:00 Uhr von Kirchheim, wo ich zuhause war, nach Nürtingen und wurden richtig gute Freunde.
Die Nürtinger mochten damals die Kirchheimer nicht so sehr. Während des Dritten Reiches wurde Nürtingen zur Kreisstadt erhoben, dagegen verlor Kirchheim den Status der Oberamtsstadt. Bei Rangeleien und Intrigen haben wir uns immer gegenseitig beigestanden. Ich erinnere mich noch an einen Vorfall: Wir hatten es am Ende des Arbeitstages immer sehr eilig, um unseren Bus nach Kirchheim noch zu erreichen und hasteten durch den Waschraum, wo sich andere Lehrlinge gemütlicher wuschen und unterhielten. Till ein sehr Hochgewachsener stellte mir ein Bein und ich stürzte auf den gekachelten Fussboden. Christian folgte mir und schwupp die wupp legte er den langen Till der Länge nach in das langgestreckte Waschbecken.
Auch die Freizeit verbrachten wir größtenteils miteinander. Schon mit dem Beginn der Lehre war mein berufliches Ziel, das Studium an der Staatlichen Ingenieurschule Esslingen. Christian hatte die Mittelschule besucht und er dachte noch nicht an ein weiterführendes Studium. Seine finanzielle Situation war auch noch prekärer als meine. Natürlich wollten wir die Welt verbessern und ich überzeugte ihn davon, dass man als Ingenieur mehr bewegen konnte. Also beschlossen wir gemeinsam das Studium anzustreben. Aber 1958 war auch die Zulassung zur Ingenieurschule nicht einfach. Durch einen Vorbereitungskurs, den Herr Bunz in der Esslinger Gaststätte ROSENAU gab, machten wir uns fit für die Aufnahmeprüfung. Nach dieser Prüfung hatte keiner der Prüflinge das Gefühl, dass er es geschafft hat. Wir hatten schon Ersatzpläne geschmiedet. Unser Ausbildungsleiter Herr Kern empfahl uns, die Technische Oberschule zu besuchen und dann eine Ausbildung zum Gewerbelehrer zu absolvieren. Es hat aber geklappt, wir erhielten beide den Zulassungsbescheid.
Nachdem uns der Rektor Prof. Meerwarth bei der Immatrikulation erklärt hatte, dass man einen Esslinger Studenten aufgrund seines tadellosen Verhaltens auch in der Badehose erkennt, und uns den Rat gab, fleißig zu studieren aber auch Mut zur Lücke zu haben, was wir uns besonders zu Herzen nahmen, begannen im dichtgedrängten Vorlesungsraum unter dem Dach des Altbaus die Vorlesungen. Engagierte Dozenten wie Prof. Rudolf Föll, Baurat Knäbel, Prof. Sascha Magun, Baurat Ferdinand Bodenstein u. a. bemühten sich, uns, die wir das Lernen und Streben nach höheren Erkenntnissen bei unseren praktischen Tätigkeiten eher vernachlässigt hatten, Mathematik, Mechanik, Physik und Maschinenelemente nahe zu bringen. Für uns war das schon ein wenig so, wie auf einen fahrenden Zug aufzuspringen.
Dann kam unser Altstift Horst Matt al. Odysseus auf uns zu und meinte, wir sollten doch in eine Verbindung eintreten – am besten in die Technische Verbindung ARMINIA. Dort hätte man nette Kontakte, könne älteren Semestern Fragen zu anstehenden Problemen stellen und man würde fröhliche Feste mit anderen Studenten feiern. Das passte eigentlich nicht so sehr gut zu unserem Ziel, so schnell und so gut wie möglich unser Studium zu absolvieren, um dann bald Geld zu verdienen und finanziell unabhängig von den Eltern zu werden. Dennoch besuchten wir als Gäste einige Veranstaltungen der ARMINIA. Schließlich wurden wir – wiederum gemeinsam, aktiv bei der ARMINIA. Da unser beider Hobby die Aquaristik war, erhielt Christian den Kneipnamen Aqua und ich wurde auf den Namen Fischle getauft. Wir kämpften uns gemeinsam durch das Maschinenbaustudium und genossen das Studentenleben in der ARMINIA.
Schneller als wir uns das vorgestellt hatten, vergingen 6 Semester und unversehens saßen wir als geprüfte Ingenieure auf dem Abfuhrwagen. Bei der Abfuhr werden die Jungingenieure auf Festwagen der Verbindungen durch die Esslinger Altstadt gefahren. Ein großes Erlebnis! Aber noch aufregender war der sogenannte „Herrenabend“. Dabei trafen sich die Dozenten mit den frischen Ingenieuren im Alten Rathaus der ehrwürdigen alma mater und ehemaligen freien Reichstadt Esslingen. Es war eine tolle Kneipe, Prof. Hermann Linse am Klavier, wir alle in bester Stimmung. Ja, die Herren Professoren begrüßten uns als Ingenieur-Kollegen, da bin ich richtig erschrocken. Ein Cantus folgte dem anderen, die korporierten Studenten wetteiferten mit Mimiken. Niemand war betrunken, aber alle sehr fröhlich. So verging die Zeit und plötzlich stellten Aqua und ich fest, dass ja bald der letzte Zug den Esslinger Bahnhof verlassen wird. So hasteten wir, fast ohne Abschied, auf den Bahnhof und erreichten gerade noch den Zug. Schweratmend stellten wir im Zug sitzend fest, dass dieser nach Fahrplan Richtung Göppingen – Ulm fuhr. Wir mussten aber nach Kirchheim.
In Plochingen angekommen rannten wir zur Lokomotive und sagten dem erstaunten Lokomotivführer, dass er gerne das ganze Jahr das Filstal hinauf nach Göppingen – Ulm fahren könne, aber heute müsse er über Wendlingen nach Kirchheim/Teck fahren. „Des goht et“ entgegnete er mürrisch. Das geht gut sagten wir, man muss nur eine Weiche an der Ausfahrt Plochingen und eine Weiche an der Einfahrt Wendlingen anders stellen. Das sagten immerhin zwei staatlich geprüfte Ingenieure. Der Lokomotivführer schlug die Türe seines Führerstandes zu und fuhr ab. Die Rücklichter des Zuges verloren sich Richtung Filstal und der Bahnhof lag inzwischen total im Dunkeln. Was nun?
Wir hatten als eiserne Reserve immer eine 10 Pfennigmünze in unserem Bierzipfel. Mit 20 Pfennig konnten wir immerhin telefonieren. Also bestellten wir uns eine Taxe. Aqua imitierte bei seinen ausgezeichneten Mimiken – oft Gedichte von Busch – gerne Erich Ponto, den er verehrte und er hatte auch den leichten schlesischen Akzent drauf. Also bestellte er das Taxi und tatsächlich kam dieses nach einigen Minuten. Der Fahrer war mürrisch und etwas irritiert von den jungen Fahrgästen, aber er fuhr uns wunschgemäß nach Kirchheim. Vor dem Haus meiner Mutter hielt er an. Ich erklärte ihm, dass ich erst Geld holen müsste, um die Taxi-Gebühr zu bezahlen und, dass mein Freund bei ihm bleiben würde bis ich zurückkomme. Damit hatten wir die Grenze des Zumutbaren bei dem Fahrer erreicht. Wie sollte er aber anders zu seinem Geld kommen. Ich rannte hinauf zu unserem Haus – ungefähr 100 m –, schlich mich ins Schlafzimmer meiner Mutter und sagte ihr, dass ich mit 15 Mark meinen Freund, der im Taxi sitzt auslösen müsste. Meine Mutter war erstaunlich gefasst, sie wusste, dass dieser Tag ein besonderer war. Glücklich das nötige Geld zu haben, rannte ich wieder den Berg hinunter und löste meinen Freund und Bundesbruder aus. Dann holte ich mein Fahrrad aus dem Keller und übergab es Aqua. Der schwang sich auf das Rad und radelte nach Dettingen/Teck. Das Rücklicht schwankte ein wenig nach rechts und links, er kam aber wohlbehalten zuhause an.
Wir hatten es geschafft!
Autor: BB Fischle