Istanbul — Zwischen Tourismus, Chaos und Armut

Auslandssemester BB Universal

„Nirgends ist mir die Kluft zwischen arm und reich bisher so deutlich geworden, wie während meines Auslandssemesters in Istanbul im Sommersemester 2022.“ — BB Universal

Jedes Jahr zieht Istanbul mit erstaunlichen Sehenswürdigkeiten und seiner einzigartigen Lage als Verknüpfungspunkt zwischen zwei Kontinenten (Europa und Asien) mehrere Millionen Tourist*innen aus dem Ausland an. Die Entscheidung nach Istanbul zu gehen fiel mir leicht, da ich, obwohl es mir nicht anzusehen ist, türkische Wurzeln habe. Mein Ziel war es, die Stadt besser kennenzulernen, Türkisch zu lernen und vor allem meine Oma nach Langem wiederzusehen. Zudem wollte ich nach der isolierten Corona-Zeit wieder etwas Trubel, Aufregung und neue Menschen kennenlernen. Highlights meines Semesters waren eine Führung durch die bekannte Moschee Hagia Sophia und den erstaunlichen Topkapi-Palast der ehemaligen Sultane, das Einkaufen auf den bunten Basaren und das Probieren vieler neuer Leckereien und Spezialitäten, der Blick auf Istanbul in atemberaubenden Höhen vom Emaar-Turm mit Glasboden oder dem Fernsehturm (Camlica) und die Fahrt mit dem Kanu über den Bosporus. Meinen Koffer hatte ich nach dem Motto „Sommer, Sonne und Meer“ gepackt, wobei ich nicht erwartet hatte, bei meiner Ankunft aus dem kalten Deutschland, im noch kälteren und verschneiten Istanbul zu landen. Mein erster Kauf war demnach ein paar Winterstiefel bei Deichmann! 

Mein erster Ausflug außerhalb Istanbuls brachte mich zum Snowboarden in die Berge nach Uludag, was atemberaubend schön war. Weitere Ausflüge machte ich nach Bursa in die Stadt sowie nach Ephesus in ein antikes Museum, nach Baliksehir an einen Wasserfall und nach Izmir ans Meer sowie zum Quadfahren nach Kappadokien in eine faszinierende Landschaft.

Als Studierende hatte ich zudem die Freiheit viele Museen, wie das Illusionsmuseum oder das Miniatürk Museum (wo alle Sehenswürdigkeiten Istanbuls und der Türkei in Miniaturform ausgestellt werden) kostengünstig zu besuchen. 

Natürlich bin ich nicht nur zum Reisen nach Istanbul geflogen, sondern auch zum Studieren. Vier Mal die Woche besuchte ich Kurse an der Yildiz-Teknik-Universität. Die Universität besitzt einen erstaunlich großen Campus, auf welchem ich mich zu Beginn nicht ohne Google Maps zurechtfand. In früheren Zeiten wurde das Gelände für militärische Zwecke genutzt, was am Stacheldrahtzaun und den noch vorhandenen Bunkern zu erkennen ist. Von Fakultät zu Fakultät fuhr ich mit einem internen Bus. Der Campus hatte den Charakter einer eigenen Stadt mit einer Vielzahl an Uni-, Club- und Sportangeboten. So probierte ich mich beim Kickboxen und Eishockey aus. Im Campuspark wurden regelmäßig gratis Ausstellungen, Veranstaltungen und Konzerte für die Studierenden organisiert. Essen gehen konnte man entweder in einem der zahlreichen Cafés und Restaurants oder in der Mensa, wo die Studierenden ein komplettes Menü für 3 türkische Lira (umgerechnet 17 Cent) erhalten. 

Ich genoss zu jeder Zeit ein sehr belebtes Campusleben, wobei ich zu meinem Glück nicht nur auf Studierende traf, sondern auch auf freundliche Vierbeiner. Streunende Hunde und Katzen sind in der Türkei so normal wie bei uns Tauben in der Stadt.

Nicht ganz so begeistert hat mich allerdings die Organisation an der Uni, die Klassenräume, der Unterricht und die sanitären Anlagen. Termine etc. wurden erst kurz vor knapp angekündigt, die Klassenräume sind sehr kalt und leer gestaltet, weshalb ein starkes Echo erzeugt wird, sobald der Professor/ die Professorin spricht. Während meines Semesters hatte ich bis zu drei Prüfungen pro Kurs: Midterm (Zwischenprüfung), Second Midterm und Final, welche mit Tests verglichen werden können. Sie dauern maximal eine Stunde und beinhalten zum Großteil Multiple Choice Fragen. Von anderen Studierenden erfuhr ich, dass Matheprüfungen ebenfalls Multiple Choice Fragen enthalten. Die sanitären Anlagen bestehen zum Großteil aus Hocktoiletten (Loch im Boden), wobei sehr selten Toilettenpapier zur Verfügung steht.

Regeln schienen verglichen zu Deutschland generell keinen hohen Stellenwert zu haben, weshalb besonders der Straßenverkehr sehr chaotisch ist. Fahrbahnmarkierungen werden kaum eingehalten, an Ampeln und Zebrastreifen wird nicht angehalten und Verkehrszeichen dienen der Dekoration, weshalb auch die Fußgänger*innen kreuz und quer über die Straßen laufen und ich froh darüber bin noch nicht überfahren worden zu sein. Das geeignetste Verkehrsmittel ist wegen der häufigen Staus die Metro, welche entspannter Weise im Vierminutentakt fährt. Vernetzt war ich im gesamten Gebiet mit einer sogenannten „Istanbulkart“, welche vergleichbar mit unserem VVS-Ticket ist, nur dass sie mit ca. 5€ pro Monat um einiges günstiger ist als das Ticket in Deutschland. 

Täglich traf ich auf neue Menschen und ich hatte sowohl an der Uni als auch auf der Straße den Eindruck, nie eine Person zweimal zu sehen. Die Menschen hier habe ich als sehr offen, gastfreundlich, interessiert und hilfsbereit kennengelernt. Für ein Gespräch bei einem Glas Cay (Schwarztee) sind die Menschen hier immer bereit. 

Besonders für das Leben in Deutschland interessieren sie sich sehr. Neu war mir, dass viele Deutsch als zweite Fremdsprache lernen, so wie wir bspw. Französisch. Im Allgemeinen sind die Menschen allerdings momentan sehr unzufrieden mit der politischen und ökonomischen Lage. Durch die Inflation sinkt der Wert der Lira stetig weiter und ein Euro ist hier derzeitig bereits 18 TL wert. Was für mich ein Segen war, ist für Einheimische ein Fluch. Während ich in meinem modernen Mädchen-Yurt (türkischer Begriff für Student*innenwohnheim, die meistens geschlechtergetrennt sind und spezielle Ausgehzeiten haben), die touristischen und schönen Seiten der Türkei günstig erleben konnte, arbeiten die Einheimischen jeden Tag sehr hart, um gerade so ihre Familie versorgen zu können. Glücklicherweise konnten wir Erasmusstudierenden über eine unserer zahlreichen Whatsapp-Gruppen ein kleines Projekt auf die Beine stellen und an rund 60 bedürftige Familien zu Ramadan (islamische Fastenzeit) Carepakete, welche Essen, Trinken und Spielzeuge für die Kinder beinhalteten, eigenhändig verteilen. Bei 15,5 Millionen Einwohner*innen sind 60 Familien zwar nicht gerade viel, aber es ist ein Anfang. 

Wo viele Menschen sind, ist natürlich viel Müll. Was stark auffällt, ist der hohe Plastikanteil. Es gibt so gut wie keine Mülltrennung, Mülleimer sind eine Seltenheit und ein Pfandsystem gibt es nicht, weshalb sehr viel Plastik auf den Straßen und im Meer landet. Plastikflaschen findet man überall, vor allem da das Leitungswasser nicht zum Trinken geeignet ist. Zwischen den für Tourismus instandgehaltenen und luxuriösen Gebäuden finden sich heruntergekommene „Häuser“. Jeden Tag trifft man auf Obdachlose mit und ohne Kinder, die im Müll nach etwas Essbarem suchen.

Besonders erschrocken haben mich die kleinen Kinder, die noch keine 6 Jahre alt sind und allein durch die gefährlichen Straßen Istanbuls rennen. Mit zerrissenen Klamotten verkaufen sie, auch nachts, Taschentücher und sprechen jeden Tag ungeschützt mehrere fremde Menschen an. Dabei haben sie unterschiedliche Taktiken, um an ihr Geld zu kommen. Die meisten Kinder spielen die Melodica, ein Blas- und Tasteninstrument, wobei sie alle dasselbe Lied spielen und gehen damit durch die Bahnen. Manche Kinder rennen auf einen zu und umarmen einen ungefragt oder sie verkaufen Kleinigkeiten wie Wasser oder Pflaster.

Abschließend kann ich dennoch sagen, dass das Auslandssemester für mich sehr eindrücklich, einmalig und gelungen war, denn ich konnte Teile meiner Familie besuchen sowie meine Wurzeln und mich selbst besser kennenlernen. Meine Sprachkenntnisse habe ich sowohl im Englischen, als auch im Türkischen verbessert. Ich habe einiges über Istanbul erfahren und die Stadt mit ihren Einwohner*innen in einem anderen als dem touristischen Licht kennenlernen können. Ich bin dankbar für dieses unvergessliche Semester und für die Erfahrung eines Lebens in einer so vielseitigen, schönen und lebendigen Großstadt. Dennoch freue ich mich zurückzukehren in mein etwas ruhigeres und geregelteres Leben in der Katharinenstraße.

— Autor: BB Universal